. Das Lauster Lebensbuch
Heilende Gedanken zur Selbstentfaltung
und Befreiung

Econ Verlag, 248 Seiten

Leseprobe

Das Lauster Lebensbuch
Econ-Verlag, Seite 225 bis 228

Gibt es eine Wirklichkeit hinter den Tatsachen?

Vor einigen Tagen besuchte mich ein Physiker, der vor drei Jahren, mit fünfundvierzig, seinen Job in der wissenschaftlichen Forschung aufgab, um der »Metaphysik zu leben«, wie er sagte. Er besuchte in Indien einige Gurus, um herauszufinden, welche Wirklichkeit hinter der subjektiv erfahrbaren und mit wissenschaftlichen Methoden messbaren objektiven Wirklichkeit verborgen ist.

Er sagte, dass er heute den »Wert des Subjektiven« wieder zu schätzen wüsste und jetzt wieder einen lebendigen Bezug zu sich selbst herstellen könnte. Zuvor hätte er alles Subjektive als »nur subjektiv«arrogant abgewertet, aber er hätte erkannt, dass die naturwissenschaftliche Forschung zwar eine objektivere Wirklichkeit erfassen könnte, diese Realität in der Sprache der Zahlen und Formeln auch festmachen könnte - das wäre alles schön und gut -, aber es würde ihn heute nicht mehr befriedigen, soweit weg von der sinnlichen Erfahrbarkeit des Subjektiven entfernt zu sein. Er sagte wörtlich: »Ich hatte immer das Gefühl, hinter der Wirklichkeit, die wir erleben, ist noch eine andere Wirklichkeit, dahintersteht etwas Kosmisches, etwas Zusammenfassendes, eine Energie und Kraft, ein schöpferisches Prinzip. Es war mir zu ungenau, das als Gott zu bezeichnen und es dabei dann bewenden zu lassen. Ich habe mehrere Religionen geprüft, aber konnte auch in diesen in Dogmen erstarrten Institutionen nicht das Eigentliche finden, das ich suchte.«

Wir unterhielten uns mehrere Stunden über dieses Thema, und ich spürte, dass er danach drängte, nun herauszufinden, ob ich ihm als »Psychologe« mit meinem »psychologischen Ansatz«, das menschliche Leben zu erforschen und zu erklären, eine Antwort bei seiner Suche geben könnte.

Ich sagte ihm, dass ich weiß, was er sucht. Von der subjektiv erfahrbaren Wirklichkeit auszugehen, sie subjektiv zu erleben, das halte ich für richtig, und es käme mir deshalb nie in den Sinn, etwas Erlebtes als »nur subjektiv« zu bezeichnen. Wir müssen als Person zu dieser Subjektivität und zu unserem Selbst stehen. Unsere Aufgabe als Individuum ist die Selbstfindung; sie steht an erster Stelle. Das hat überhaupt nichts mit Egoismus oder Egozentrik zu tun; die Selbstfindung führt zur Selbstfühlung. Wir beginnen, mit uns selbst in Fühlung zu treten und unsere innere Wirklichkeit wahrzunehmen. Ob diese Wirklichkeit etwas Objektives ist oder nicht, das spielt zunächst einmal gar keine Rolle. Wenn wir in Selbstfühlung unsere Umwelt über die Sinne wahrnehmen, also mit unserer Ganzheit als Person erfassen, kann das sinnlich Erfahrbare tief in uns eindringen und durch uns hindurchfließen. Es muss nichts festgehalten werden; Seelenleben ist unabhängig vom Gehirn, es braucht kein Gedächtnis. Das Denken dagegen ist auf das Gedächtnis angewiesen, es arbeitet mit dem gespeicherten Wissen, den Erfahrungen und Kenntnissen. Seelenleben aber braucht kein Gedächtnis; Gefühle sind stets aktuell und neu. Das Denken vergleicht, das Seelenleben ist frei vom Vergleich.

Wer in Selbstfindung ist und lebendiges Seelenleben zulässt, gelangt zur Seinsfühlung. Die Dinge um ihn herum beginnen sich in einem anderen Licht zu offenbaren. Diese sinnlich erfahrbare Wirklichkeit ist konkret. Aber dieses Konkrete erhält im Seelenleben (nicht im Denken) eine Transparenz, es scheint etwas hindurch, das über unsere alltäglichen Sorgen, Konflikte und Probleme hinausweist. Wir sind befähigt, mit unserer Seele etwas zu empfangen, was das Denken mit seiner sachlich-wissenschaftlichen Einstellung nicht empfangen könnte. Diese Seinsfühlung kann man nicht lehren.

Es gibt Menschen, die das Erlebnis der Seinsfühlung nicht kennen und, wenn darüber gesprochen wird, das als spirituellen Unsinn abtun. Viele haben allerdings schon Momente der Selbst- und Seinsfühlung erlebt. Sie schildern dieses Ereignis als etwas sehr Kostbares. Sie fühlen sich in diesem Augenblick frei, gelöst und getragen von einer Energie, die das Leben plötzlich unkompliziert und leicht erscheinen lässt. Es entsteht ein Gefühl von Geborgenheit inmitten des Trubels der Ereignisse, in aller Unsicherheit. Angstgefühle sind völlig verschwunden, und in dieser Geborgenheit fühlt man sich »selbstsicher, frisch und wie neugeboren«. Man wäre sogar bereit, in diesem Augenblick zu sterben. Es entsteht ein Gefühl der Erfüllung inmitten aller Unerfülltheit der Wünsche, Hoffnungen und ungelösten Probleme. Man ist von einer Energie erfasst und getragen, die man nicht selbst geschaffen hat. In dieser Selbstfühlung, die Seinsfühlung ermöglicht, wird man im Seelenleben zu einer Durchgangsstation für die Energie des Lebens, die in dieser Welt ist, die aber nicht jedermann sichtbar und ergreifbar ist. Dieses Gefühl, wenn wir selbst in unserem Wesen sind und das Wesen der Dinge sich zu offenbaren beginnt, ist das Wesentliche. Es kann zum Wesentlichsten eines ganzen Lebens werden.

Vor kurzem unterhielt ich mich mit einer krebskranken sechzigjährigen Frau, die wusste, dass sie voraussichtlich nicht mehr länger als ein halbes Jahr leben würde. Sie sagte mir: »Ich lasse jetzt oft meinganzes Leben an mir vorüberziehen. Ich habe viel erlebt, es ist viel geschehen in den zurückliegenden sechzig Jahren - aber woran ich immer denken muss, ist ein Erlebnis in meiner Jugend. Ich lief alleine mit Schlittschuhen auf einem zugefrorenen See. Es war ein nebliger, kalter Winterabend. Ich ließ mich auf dem Eis dahingleiten, der Himmel war am Horizont gerötet von der untergehenden Sonne. Von ferne hörte ich einige Kinder rufen und lachen. Aus den Häusern am Ufer stieg der Rauch in den Himmel. Ein Vogel flog vorbei. Ich war ganz eins mit mir, meinem Körper, meinen Bewegungen, der Luft und dem Atem. Ich fühlte mich so leicht und glücklich. Ich dachte, die Welt ist schön, und es wird alles gut. Ich sagte vor mich hin: Lieber Gott, ich danke dir, dass ich so glücklich bin, dass mein Herz fast zerspringen will vor Glück. Ist das nicht seltsam, dass ausgerechnet dieses banale Erlebnis mir heute im Rückblick als das Allerwichtigste erscheint? Wichtiger als mein Schulabschluss, wichtiger als meine erste Liebe, wichtiger als meine Heirat und die Geburt meiner Tochter. Wichtiger als das Haus, das wir gebaut haben?«

Ich finde das nicht seltsam oder verwunderlich. Solche Erlebnisse, in denen sich das eigene Wesen dem Wesen des Seins öffnet, ist ein geöffnetes Fenster zur Welt der großen Energie. Es ist das Erlebnis des Wesentlichen, in dem etwas vom Wesen des Eigenen und des Äußeren zu uns strömt. Der Sinn des Lebens ist: wesentlich leben, sich darauf zubewegen. Dafür lohnt es sich zu leben. Wenn es mir als Autor gelingt, das bewusst zu machen und einige verschlossene Seelen wieder aufzuschließen, dann lohnt sich die Mühe und Arbeit, etwas in Worte zu fassen, was mit Worten niemals vollständig ausgedrückt werden kann.